In der Geschichte des Kampfes um LGBT-Rechte im Südkaukasus ist der 17. Mai 2012 ein Meilenstein. Erstmals ging an diesem international begangenen Tag gegen Homophobie eine Gruppe Aktivisten im Zentrum der Hauptstadt Tiflis auf die Straße, um für die Rechte sexueller Minderheiten zu demonstrieren. Die Aktion war beim Bürgermeister der Stadt angemeldet worden. Zum Schutz der Demonstranten waren Polizisten präsent. Es dauerte nicht lange, bis ihr Einsatz notwendig wurde.
Als sich die Aktivisten von der Staatlichen Konzerthalle aus auf den Weg machen wollten, versuchten ultra-orthodoxe Christen der Organisation "Orthodoxe Eltern" ihnen den Weg zu versperren. (siehe Video) Bei dem Handgemenge griff die Polizei nach Berichten von Augenzeugen zunächst nur zögerlich ein. Schließlich wurden Aktivisten beider Seiten kurzzeitig festgenommen. An einer Protestaktion gegen die Polizei am nächsten Tag waren neben LGBT-Aktivisten auch Diplomaten einiger europäischer Botschaften präsent.
Auch wenn die Demonstration am 17. Mai 2012 gestört wurde und die Organisatoren im Nachhinein persönlich angegriffen wurden, so zeigte sich doch, dass es zumindest in Tiflis inzwischen möglich ist, für LGBT-Rechte auf die Straße zu gehen. Dies ist auch ein Ergebnis des jahrelangen Einsatzes von Aktivisten, die inzwischen in mehreren Organisationen aktiv sind und zum Beispiel von der Böll-Stiftung unterstützt wurden. So veranstaltete die Stiftung bereits im Jahr 2005 die erste öffentliche Veranstaltung zum Thema. Auch wurde das erste LGBT-Magazin im Südkaukasus "Me" zusammen mit der Organisation Inclusive Foundation von der Böll-Stiftung unterstützt. Er erschien auf Georgisch und ab 2007 auch mit englischen Texten. Es gab und gibt einige Organisationen, die sich für LGBT-Personen einsetzen. Dazu gehört neben der Inclusive Foundation die Organisation Identoba, die Women's Initiatives Supporting Group - WISG, die sich für Frauenrechte einsetzt, sowie seit kurzem die Initiativen LGBT Georgia und Trans Georgia.
Jedoch gab es auch bei den Veranstaltungen in den Räumen der Böll-Stiftung zum Thema Angriffe ultra-orthodoxer Christen. So störten Mitglieder der "Orthodoxen Eltern" 2009 einen öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema. Es gab erhitzte verbale Auseinandersetzungen und Raufereien. Bücher wurden zu Boden geworfen. Die Polizei kam erst Stunden, nachdem sie gerufen worden war.
Gesetze gegen Diskriminierung
Im Vergleich zu den Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan ist die rechtliche Situation für LGBT-Personen in Georgien besser. Nicht nur ist wie in den beiden anderen Staaten Homosexualität seit 2000 entkriminalisiert. Es gibt inzwischen auch gesetzliche Regeln zum Schutz vor Diskriminierung. So ist eine Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung auf dem Arbeitsmarkt verboten. 2012 verabschiedete das Parlament zudem eine Ergänzung im Strafgesetzbuch, der zufolge Verbrechen härter bestraft werden sollen, wenn als Motiv Hass auf sexuelle, aber auch andere Minderheiten nachgewiesen werden kann.
Da sich die Regierung unter Präsident Michail Saakaschwili seit der Amtsübernahme 2004 einem westlich orientierten Kurs verschrieben hatte, propagierte sie auch die Rechte sexueller Minderheiten. Der mit der Parlamentsmehrheit der bisherigen Regierungspartei UNM gewählte Ombudsmann Giorgi Tuguschi sprach sich öffentlich für Toleranz aus. So erklärte er am 17. Mai 2012, dass Homophobie in Georgien wie auch im Rest der Welt eines der größten Probleme ist. Homophobe Äußerungen und Handlungen seien eine Kränkung für LGBT-Personen und stärkten stereotype Vorstellungen in der Gesellschaft. (siehe March of Gay Activists Ends in Scuffle in Downtown Tbilisi) Aktivisten begrüßten es auch, dass Tuguschi im Oktober 2011 an einer Veranstaltung der Organisation ILGA-Europe in Turin teilnahm und sich für die Anerkennung von LGBT-Rechten aussprach.
Zwei Gesichter einer Regierung
Aktivisten äußern sich dennoch kritisch über die Regierung Saakaschwilis, die bis Oktober 2012 im Amt war. So werfen ihr Irakli Watscharadse, Direktor der Organisation Identoba, und Eka Tsereteli, Mitarbeiterin der Women's Initiatives Supporting Group, vor, zwei Gesichter zu zeigen. Ihre liberale und tolerante Seite habe die Regierung vor allem im Ausland präsentiert. Im Inland habe sie sich jedoch oft passiv verhalten und stillschweigend Homophobie geduldet.
Watscharadse beklagt zum Beispiel, dass die Medien in all den Jahren seit der Rosenrevolution 2003 ungehindert homophobe Äußerungen und stereotype Vorstellungen über sexuelle Minderheiten verbreiten konnten. Die Regierung habe die Medienfreiheit so weit definiert, dass es praktisch unmöglich sei, gegen homophobe Berichterstattung vorzugehen. Jedes Medium in Georgien bestimmt selbst einen Ethik-Kode und eine Ethik-Kommission, erklärt er. Es sei so gut wie aussichtslos, dort Beschwerden einzureichen. Nur ein einziges Mal sei es gelungen, eine Entschuldigung für eine abwertende Äußerung über die Teilnehmer der Demonstration am 17. Mai 2012 zu erwirken.
Zu den am offensten LGBT-feindlich auftretenden Medien gehört die Tageszeitung Asaval-Dasavali, die als sehr einflussreich in der Bevölkerung gilt. Sie macht immer wieder mit Skandal-Berichterstattung teils auch über Regierungspolitiker auf sich aufmerksam, wobei oft Lügen als Tatsachen verkauft werden. Weitgehend unbekannt ist, wer hinter der Zeitung steht und diese finanziert. Als im Herbst 2012 Aktivisten gegen die Art der Berichterstattung von Asaval-Dasavali über einen Folterskandal in den Gefängnissen protestierten, eilten der Redaktion Mitglieder der Organisation "Orthodoxer Eltern" zu Hilfe.
Eka Tsereteli weist darauf hin, dass es auch in der Partei Saakaschwilis und in deren Umkreis homophobe Äußerungen gab. Als Beispiel nennt sie den Abgeordneten Dimitri Lortkipanidse. Er hatte unter anderem der christdemokratischen Fraktion im Parlament angehört, Die Christdemokratische Partei wurde in der Bevölkerung weitgehend als eine Oppositionspartei angesehen, die von Saakaschwili gelenkt wurde. Nach der Parlamentswahl im Oktober war Lortkipanidse kurze Zeit als neuer Ombudsmann im Gespräch. Dabei hatte er sich bei Anhörungen offen gegen die Unterstützung von LGBT-Rechten ausgesprochen.
Als ein negatives Beispiel nennt Tsereteli auch eine Polizei-Razzia, die im Jahr 2009 in den Räumen ihrer Organisation sowie der Inclusive Foundation durchgeführt wurde. Dabei hätten die Polizei-Beamten die Mitarbeiter belästigt, die Räume verwüstet und dort Drogen versteckt. Eine Klage vor Gericht wurde nicht angenommen. Tseretelis Organisation hat deshalb zusammen mit weiteren Aktivisten vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Klage eingereicht. Diese wurde angenommen und wird demnächst verhandelt. (siehe First Georgian Homophobic Case in Strasbourg Court)
Hinzu kommt, dass die Christdemokratische Partei mit ihrem Vorsitzenden Giorgi Tagarmadse kurz nach dem Marsch gegen Homophobie am 17. Mai 2012 eine Verfassungsänderung forderte, mittels der Propaganda für Homosexualität und unsittliches Verhalten verboten werden sollte. (siehe CDM Wants 'Constitutional Amendments Against Immorality') Targamadse sprach sich zwar gegen Gewalt in jeder Form aus. Er erklärte aber auch, dass europäische Staaten kein Vorbild für Georgien sein können, in denen gleichgeschlechtliche Partnerschaften gesetzlich erlaubt sind und homosexuelle Politiker Spitzenposten in den Regierungen einnehmen. Der Partei der Christdemokraten gelang es bei der Parlamentswahl im Oktober nicht, die Fünf-Prozent-Hürde für den Eintritt ins Abgeordnetenhaus zu überwinden. Derzeit spielt sie im politischen Leben Georgiens keine Rolle mehr.
Wer gewinnt in der neuen Regierung die Oberhand?
Bislang vorsichtig und abwartend äußern sich Aktivisten über die neue Regierung unter Premierminister Bidsina Iwanischwili. Während des Wahlkampfes und in den ersten Wochen seit Amtsantritt waren aus Iwanischwilis Lager sehr unterschiedliche Äußerungen in Bezug auf Minderheiten zu hören. So sprach sich der Milliardär selbst bei seiner ersten Pressekonferenz im November 2011 für Toleranz auch gegenüber sexuellen Minderheiten aus. Zudem vertreten zwei Parteien, die Republikaner und die Freien Demokraten um den Politiker Irakli Alasania, liberale und westliche Werte. Auch die neue Justizministerin Tea Tsulukiani, Mitglied der Freien Demokraten, genießt als ehemalige Mitarbeiterin am Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg einen sehr guten Ruf.
Doch sah sich Iwanischwili immer wieder gezwungen, Äußerungen gegen Minderheiten aus seiner Koalition gerade zu rücken. Zudem nahmen es viele Aktivisten mit Bedauern auf, dass das Bündnis nicht die weithin geachtete Juristin und Menschenrechtsaktivistin Tamar Gurchiani als neue Ombudsfrau nominierte. Sie hatte sich als einzige für die Förderung von LGBT-Rechten in Georgien ausgesprochen.
Für Bedenken sorgt zudem das gute Verhältnis Iwanischwilis und seiner Koalition zur christlich-orthodoxen Kirche. Patriarch Ilia II. hatte sich zum Beispiel während des Wahlkampfes zwei Mal mit Iwanischwili getroffen und sich offen für die Rückgabe der georgischen Staatsbürgerschaft an Iwanischwili ausgesprochen. Diese hatte der Milliardär verloren, nachdem er sich zum Herausforderer Saakaschwilis erklärt hatte.
Orthodoxe Kirche verbreitet Intoleranz
Schon in den vergangenen Jahren hatte die orthodoxe Kirche und besonders Ilia II. in der Bevölkerung ein solches hohes Ansehen erlangt, dass es praktisch unmöglich ist, Politik gegen sie zu betreiben. Die Kirche betont zwar immer wieder, sie mische sich nicht in die Politik ein, und Ilia II. mahnte in heiklen politischen Situationen immer wieder zu Besonnenheit, ohne eine Seite ausdrücklich zu bevorzugen. Doch in Bezug auf ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten vertritt die Kirche eine offen intolerante bis feindliche Position. Auch der liberalere Flügel innerhalb der Kirche bezeichnet Homosexualität als von Gott nicht gewollt und deshalb als verdammenswert. Ilia II. selbst verbreitet in seinen Predigten ein erzkonservative Vorstellungen über das Rollenverhalten von Mann und Frau. So vertritt er die Position, dass Frauen ihren Männern in jeder Hinsicht zu Diensten zu sein haben.
Radikale Christen wie die "Orthodoxen Eltern" gelten offiziell nicht als Organisation der Kirche. Hin und wieder werden diese gemahnt, nicht gewalttätig zu werden. Doch duldet es die Kirche, dass diese Organisationen ihre radikalen Positionen in deren Namen verbreiten. Auch vertreten Priester innerhalb der Kirche menschenrechtsverachtende und undemokratische Positionen. Unter den liberalen Priestern wird dies als Problem anerkannt mit Verweis darauf, dass zu Sowjet-Zeiten keine akademische Priester-Ausbildung stattfinden konnte. Es werde erst ein neues Ausbildungssystem aufgebaut und die Priester dazu angehalten, sich weiterzubilden.
Aggressives Verhalten gegen LGBT-Aktivisten
LGBT-Aktivisten wie Irakli Watscharadse sehen in der orthodoxen Kirche das größte Hindernis für mehr Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Er sagt, gerade unter jungen Georgiern, die eigentlich am tolerantesten seien, betreibe die Orthodoxe Kirche geradezu Gehirnwäsche. In der Folge seien zahlreiche junge Georgier heute intoleranter als die ältere Generation. Zudem würden sie sehr aggressiv auftreten. Dies führt zu gewaltsamen Konfrontationen mit der LGBT-Gemeinde und deren Unterstützern, die es sich in den vergangenen Jahren immer mehr zutrauten, in der Öffentlichkeit für ihre Rechte zu kämpfen.
So kam es nicht nur am 17. Mai 2012 zu Gewalt auf der Straße. Die Mit-Organisatorin des Umzugs, Magda Kalandadze, die selbst nur LGBT-Personen unterstützt und eine Familie mit zwei Kindern hat, erhielt auf Facebook Todesdrohungen. Die Mitarbeiter der Organisation Identoba konnten mehrere Wochen ihre eigenen Büros nicht aufsuchen, weil sie dort bedroht wurden.
Bevölkerung gegen Toleranz für Minderheiten
Die orthodoxe Kirche ist auch deshalb so angesehen, weil sie zahlreiche Ressentiments in der Bevölkerung bedient, die die Sowjetzeiten, aber auch die von Krieg und Staatszerfall geprägten Jahre nach der Unabhängigkeit prägten. In Umfragen des Caucasus Research Resource Centers sprechen sich die Befragten seit Jahren zu mehr als 90 Prozent gegen die Anerkennung von Homosexualität aus. Dies änderte sich nicht, auch wenn die Befragten bei anderen Themen über die Jahre mehr Toleranz entwickelten, zum Beispiel hinsichtlich der Toleranz gegenüber unverheirateten Frauen.
Aktivisten beschreiben die georgische Gesellschaft als stark maskulin geprägt. Männer dürfen nur in wenigen Momenten Gefühle zeigen. Diese brechen sich Bahn bei Festen, wenn reichlich Alkohol im Spiel ist. Umarmungen und Küsse zwischen Männern bei solchen Gelegenheiten dürften jedoch nicht als Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Zuneigung verstanden werden, erklärt Irakli Watscharadse. Auch wenn junge Männer Arm in Arm durch die Straßen liefen, sei dies nur als Zeichen enger Männerfreundschaft zu verstehen.
Während Männer in der Öffentlichkeit und auch in den Familien mit Gewalt rechnen müssen, sobald sie sich als einer Gruppe der sexuellen Minderheiten zugehörig outen, wird die weibliche Sexualität weitgehend negiert und der Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben in dieser Hinsicht oft nicht einmal verstanden.
Ein Beispiel ist der noch immer lebendige mittelalterliche Brauch der Brautentführung. Auch wenn einige Paare diese Sitte nur noch zur Legitimation ihrer bislang heimlich geführten Beziehung nutzen, gibt es immer noch Fälle, bei denen die Mädchen ohne ihr Einverständnis entführt werden. Auch kommt es vor, dass sie ihren Entführer nicht einmal kennen. Nach einer Entführung ist es den Familien nicht mehr möglich, ihre Tochter wieder aufzunehmen, weil sie offiziell nicht mehr als jungfräulich gilt, damit entehrt ist und ihrer Familie Schande zufügen würde.
Unter jungen Männern gibt es noch immer Sprüche wie diese: "Ich sollte dieses Mädchen entführen, bevor es ein anderer tut." Andererseits empfinden es manche Mädchen als Ehre, entführt zu werden.
Regenbogen-Partys in privater Zurückgezogenheit
Trotz des konservativ geprägten Verständnisses von Geschlechterrollen und Sexualität entwickelte sich zumindest in der Hauptstadt Tiflis eine aktive LGBT-Gemeinde. Die Organisation Identoba organisiert zum Beispiel Gesprächsrunden und Filmabende. Es gibt derzeit vier Bars in der Innenstadt, die als gay-friendly bezeichnet werden können. Ganz sicher vor Gewalt können sich LGBT-Personen aber auch in Tiflis nur in privater Zurückgezogenheit fühlen.
Vielen sind diese Begegnungen mit Gleichgesinnten sehr wichtig. So beschreibt es zum Beispiel Achiko. Er kommt aus einem Dorf bei Gori und bezeichnet sich selbst als Transgender. Er trage als Mann gern Frauenkleidung, ohne sein Geschlecht medizinisch ändern zu wollen. In seiner Familie unterstützt ihn nur seine Schwester. Seine Mutter hat Angst, dass seine sexuelle Orientierung bekannt werden und er damit Schande über die Familie bringen könnte. Sein Vater und sein Bruder wissen nichts. In Tiflis geht Achiko verschiedenen Jobs nach. Manche seiner Arbeitskollegen wissen Bescheid und unterstützen ihn. Bei seinen Freunden findet er viel Verständnis, sagt er. Niemals würde er es jedoch wagen wollen, in der Öffentlichkeit nicht eindeutig als Mann gekleidet aufzutreten. Sein Traum sei die Schweiz, erzählt Achiko. Dort sei das Leben viel freier.
Als positiv hebt Irakli Watscharadze hervor, dass sich immer wieder junge Leute bei seiner Organisation Identoba in Tiflis melden, die ein Coming Out gewagt haben. Da sie dann oft Unterstützung und Anerkennung von ihrer Familie erfahren würden, bereuten diese jungen Leute diesen Schritt in der Regel nicht. Es wirke sich positiv auf die Persönlichkeit der Betroffenen aus. Meist stellten sie dann auch selbstzerstörerisches Verhalten wie zum Beispiel exzessives Trinken ein.
In Georgien hat sich in den Jahren seit der Rosenrevolution 2003 für LGBT-Personen mehr zum Positiven gewandelt als in den Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan. Dazu zählen die Gesetzesänderungen zum Schutz vor Diskriminierung von Minderheiten. In einer vergleichsweise freien politischen Atmosphäre war es LGBT-Aktivisten zunehmend möglich, offen für die Rechte sexueller Minderheiten zu kämpfen. Jedoch versäumte es die Regierung von Präsident Michail Saakaschwili generell, die Menschen in ihre liberalen Reformen soweit einzubeziehen, dass diese sich mit den Maßnahmen identifizieren konnten. Stattdessen wuchs in den vergangenen Jahren der Abstand zwischen den teils hastig durchgeführten Reformen und den eigentlichen Wünschen und Bedürfnissen der Menschen vor allem auf dem Land. Fehlende Aufklärung auch hinsichtlich der Rechte nicht nur sexueller, sondern auch ethnischer und religiöser Minderheiten führten dazu, dass Ressentiments nicht abgebaut wurden.
Je mehr die Regierung und vor allem Präsident Saakaschwili an Unterstützung und Anerkennung in der Bevölkerung verloren, um so wichtiger wurden die orthodoxe Kirche und Patriarch Ilia II., der den Wunsch der Bevölkerung nach einer vorbildhaften Führungspersönlichkeit erfüllt. Die Kirche nahm die weit verbreiteten Vorurteile auf und verstärkte sie noch. Dies half ihr, ihre Vormachtstellung im religiösen, gesellschaftlichen und auch politischen Bereich auszubauen.
Die neue Regierung unter Premierminister Bidsina Iwanischwili ist konservativer orientiert als Saakaschwilis Partei. Iwanischwili ist damit näher an der Bevölkerung. Das gibt ihm die Chance, mehr Verständnis für liberale und demokratische Reformen bei den Menschen zu finden, wenn seine Regierung tatsächlich gewillt ist, den eingeschlagenen Weg in Richtung Westeuropa zu verfolgen, wie es Iwanischwili im Wahlkampf versprochen hat.
Als Korrektiv steht nicht nur die Partei Saakaschwilis in der parlamentarischen Opposition bereit. Eine junge Generation von Aktivisten vor allem unter den jungen Studenten setzte sich bereits während des Wahlkampfes für soziale, politische und gesellschaftliche Gleichheit ein. Dass diese demokratisch gesinnte Generation heranwachsen konnte, ist auch ein Verdienst der abgewählten Partei von Präsident Saakaschwili und seiner Mitstreiter.